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Urwälder in Osteuropa

Neue Zürcher Zeitung, Tourismus, Donnerstag, 14.9.2000

Waldreservate offenbaren mehr als die Summe ihrer Bäume Amazonien?

Nein, Polen, Tschechien, Slowakei! Urwälder sind näher anzutreffen, als man denkt. Nur kennen wir sie nicht. In Osteuropa liegen einige, ausgerechnet dort, von wo doch damals die erschreckendsten Bilder vom Waldsterben auftauchten, von Baumskeletten, erstickt in zähen Schwefelschwaden. Doch es gibt Wälder ausserhalb der Reichweite von Fabrikschloten. «Dieser Urwald ist uns durch einen Glücksfall der Geschichte erhalten geblieben», sagt Czeslaw Okolow, Direktor des Nationalparks von Bialowieza, der jenseits der polnischen Grenze in Weissrussland seine Fortsetzung findet. Hier jagten nämlich einst die polnischen Könige und die russischen Zaren. Da wollten die Nazigrössen nicht hinten anstehen und schonten diesen Wald auch. Ob all der Jagd wurden zwar die Wölfe dezimiert und die Wisente ausgerottet. Die letzten Exemplare dieses europäischen Bisons wurden dann aus Zoos nach Bialowieza geholt, gezüchtet und ausgewildert. Die Herde hat längst schon die angestrebten 250 Stück erreicht, und Exemplare aus Bialowieza sind in andere Länder exportiert worden, damit der mächtige europäische Büffel eine gesicherte Zukunft hat.  

Seit 75 Jahren ist kein Auto mehr in den Urwald von Bialowieza eingedrungen, und Direktor Okolow lässt die Kutschen anspannen, um uns die Kernzone zu zeigen. Die ist zu drei Vierteln von Laubbäumen bestockt, von Linden, Ulmen, Eichen, Eschen, der Rest ist Nadelholz, wie die unglaublich langen Föhren, die einst als Mastkiefern von sämtlichen Kriegsflotten gefragt waren. Auffallend die Länge der Stämme: Zum Licht des Himmels strebt, wer unter all der natürlichen Konkurrenz Erfolg haben will. Hier eine Winterlinde von 46 Metern Höhe, Durchmesser auf Brusthöhe 1 Meter 70, 300 Jahre alt. Daneben eine dünne Linde, die aus einem vielleicht tausend Jahre alten Stock wieder ausgeschlagen hat. Dort eine Salweide, bei uns nur als Busch bekannt, hier aber ein mächtiger Baum von 30 Metern Höhe. Ihre Rinde enthält einen Wirkstoff, der unter dem Namen Aspirin aus keiner Apotheke mehr wegzudenken ist. Der Parkdirektor weiss zu jeder Pflanze etwas zu berichten, was die Bedeutung des Urwaldes als Schatzkammer der Biodiversität hervorhebt. Bis jetzt wurden in Bialowieza 25 000 Arten von Lebewesen identifiziert, wohl nochmals so viele warten auf die Katalogisierung. Okolow weist auf einen unscheinbaren Pilz, der waagrecht an einem vermodernden Baumstamm wächst; er gedeiht nur auf liegendem Holz, und hier findet der sonst wo gefährdete Pilz genügend Totholz. Dann klaubt der Förster ein Stück Rinde von einem abgestorbenen Stamm: Er zeigt auf die Rammelkammer, die das Buchdruckerweibchen (Borkenkäfer) gebohrt hat, um die Männchen anzulocken; anschliessend werden die befruchteten Eier schön in die Seitengänge der Kammer zur Reifung sortiert. Okolow deutet in die Höhe einer mächtigen Eiche, in deren Rindenfurchen seltsame Tannzapfen stecken. Spechte haben sie eingeklemmt, um in aller Ruhe an die Samen heran zu kommen. Die Exkursion mit dem Parkdirektor ruft ins Bewusstsein, wie bedeutend Wälder auch für unsere Kultur sind, für Kunst und Geschichte, als Ort von furchterregenden Sagen, Helden verehrenden Legenden und lehrreichen Märchen, von Räubern, Hexen und Wolfskindern. Okolow führt uns zur «Jagiello-Eiche». König Jagiello, der Polen im 14. Jahrhundert zur Blüte gebracht hatte, soll unter ihr gelagert und wichtige Schlachten vorbereitet haben. Das wenigstens wusste ein Journalist zu berichten, als die über 500jährige Eiche vor einem Vierteljahrhundert umgestürzt war. Okolow lacht; jetzt will jeder Besucher von Bialowieza die von Moos und Hallimasch überwachsenen Reste des Baumes sehen, auch wenn die Legende ganz jungen Ursprungs ist. An einer finsteren Ecke im Wald steht eine dunkle Granitplatte. Sie gemahnt an die Stelle, an der die Nazis 220 Männer erschossen. Unweit davon richteten später die Sowjets unliebsame Polen auf ihre bevorzugte Weise hin, durch Enthauptung. Der Wald als finsterer Richtplatz.  

Wald ist Wald, und doch kann man ihn aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Ganz ungewohnt ist wohl die Sichtweise in einer «Baum-Meditation», zu welcher Reiseleiter Andreas Speich anleitet, eine Methode, die nichts mit Esoterik zu tun hat. Forstingenieur Speich weist auf die Affinität zwischen den Genen von Mensch und Baum hin. Dann sucht sich jeder einen Baum aus, den er oder sie näher kennen lernen will, umarmt ihn, blickt zur Krone, fühlt der Rinde entlang zu den Wurzeln herab, entdeckt dabei die fast mikroskopisch kleine Welt der Pilze und Insekten. Schliesslich wird mit dem Atem das Kohlendioxid ausgeatmet, das die Pflanzen als Lebensbausteine verwenden, um uns daraus wieder den notwendigen Sauerstoff zu liefern. Wahrlich eine wohltuende Symbiose.  

Den Lindenurwald Las Lipowy Obrozyska bei Nowi Sacz kann Förster Speich natürlich auch erdgeschichtlich erklären. Nach der vor 15 000 Jahren beendeten Eiszeit stiessen die Linden aus ihren Rückzugsgebieten im Balkan wieder nach Zentraleuropa vor und konnten hier Fuss fassen und diesen Platz bis heute standhaft verteidigen – ein «Lindenoptimum» in der Sprache der Förster. Oder man kann auch der Theorie vertrauen, wonach die Bischöfe von Krakau diesen Wald schützten, weil er ihnen das Lindenholz lieferte, das die Künstler für ihre Altarschnitzereien brauchten. Zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten, die das an Kulturdenkmälern ohnehin reiche Krakau zu bieten hat, gehört der von Veit Stoss im 15. Jahrhundert geschaffene Altar in der Marienkirche. Zwölf Jahre arbeitete er an seinem Meisterwerk, fertigte aus Lindenholz 200 teils drei Meter hohe Figuren und fügte sie zu einem wunderbaren Kunstwerk zusammen, bestehend aus drei fixen und zwei beweglichen Flügeln.  

Holz als gebundenes Kohlendioxid. über 600 Jahre lang wurden die Salzstollen im Bergwerk von Wieliczka abgebaut. Krakau verdankte dem Salz einen grossen Teil seines Reichtums. Ohne Holz wäre der Abbau von 7 Millionen Kubikmetern Steinsalz nicht möglich gewesen. Geniale Ingenieure bauten riesige Förderanlagen aus Holz, weil es nicht rostet. Und eine Million Kubikmeter wurden zum Abstützen der Stollengänge eingebaut. Dieses Holz, das weder vermodert noch verbrannt wird, ist die effektivste und billigste Form der Anbindung von CO2 aus der Atmosphäre. Es wird vom Salz konserviert. Die ganze Umgebung von Wieliczka ist in der Vergangenheit abgeholzt worden. Mit dem kostbaren Salz wurde bevorzugt bedient, wer mit Holz angekarrt kam.   Jeden Tag pflegt Andreas Speich die Waldexkursionen mit einem Märchen und einem passenden Gedicht einzuleiten, sei es das tschechische Nationalmärchen von Lybusa, der Gründerin von Prag, die von einem Ritter und einer Eichenelfe abstammte, oder Gottfried Kellers Gedicht «Im Wald». In der Nähe des Konzentrationslagers Auschwitz, das auf der Reise besucht werden kann, rezitiert Speich Brechts «Ballade vom Baum und den ästen», eine böse Ahnung vom Naziterror.  

Forstingenieur Speich hat Stil; abends vertauschen die Herren zuweilen Windjacke mit Jackett. Zu fast jedem Nachtessen wird musiziert. In Krakau spielen Klezmer-Musikanten und erinnern an die einst prägende jüdische Kultur. In Warschau bietet die Chopin-Akademie der kleinen Reisegruppe ein exklusives Privatkonzert. Zu Kerzenlicht und alter Musik organisiert Speich im Rittersaal des Schlosses Rozmberk an der Moldau eine einfache Abendtafel. Grossen Anklang finden die Mittagessen, die praktisch ausnahmslos unter freiem Himmel stattfinden, in einem ausgewählten Waldstück, einem Schlosspark oder dem Garten eines privaten Anwesens. Den Wein für die Reise haben die Weinnasen unter den Teilnehmern demokratisch bei Proben in den Kellern des tschechischen Städtchens Straznice ausgewählt und in den Bauch des komfortablen Reisebusses verstauen lassen. Wenn dann Anja jeweils ihr köstliches Buffet aus lokalen Spezialitäten bereitgestellt hat, hört man die Korken knallen und einmal, in Lopuzna, die Musik von Ola, welche die Saiten ihrer Bandura spielt. Unterdessen hat Beata, die perfekt Deutsch sprechende polnische Führerin, die Schlüssel zum Herrschaftshaus der Tetmejrs aufgetrieben, dessen Dach teilweise aus genuteten Schindeln besteht und so die Zeiten überstanden hat.  

Die von Andreas Speich organisierte Reise «Urwälder und Renaissancestädte aus der Märchenzeit» spielt sich in österreich, Tschechien, der Slowakei und Polen ab – trotzdem hat sie etwas mit dem Zürcher Sihlwald zu tun. Aber das kann man schon fast als eine Ironie der Schweizer Forstgeschichte bezeichnen. Speich war nämlich einst Stadtforstmeister von Zürich und lancierte die Idee, den Sihlwald von einem hoch defizitären Wirtschaftswald langsam in einen Urwald übergehen zu lassen. Die damals (und teilweise heute noch) in der Schweiz tonangebenden «Forsttechnokraten», die jeden Baum vorrangig zu Rohstoffzwecken und vielenorts mit hohen Subventionen pflegen, schossen sich sofort auf Speich ein, der dem Wald einen autonomen Wert zollt und auf dessen bis zu tausendmal höheren Erholungswert (im Vergleich zum Holzerlös) verweist. Nun, Speich wurde seinen Job als Stadtforstmeister von Zürich los. Aber über die Grenzen von Zürich hinaus – und international als ein Mitglied der Europagruppe der World Commission on Protected Areas der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) – wurde Speich zu einem bekannten Anwalt des Naturwaldes, fast zu einem Guru. Sogar die helvetische Försterlobby hat inzwischen ihr Kriegsbeil begraben, und der Schweizerische Forstverein sitzt in der Stiftung Sihlwald, der nun langsam in einen Naturwald übergehen darf. Vom internationalen Ansehen des Forstingenieurs profitieren die Reiseteilnehmer, denn stets freuen sich die Park- und Reservatsdirektoren, die Gruppe persönlich zu führen. Und: Wer mit Andreas Speich einen Urwald besucht hat, wird auch zu Hause dem Wald und jedem Baum mit anderen Augen begegnen.  

Oswald Iten

In den märchenhaften Tiefen der Urwälder Osteuropas

Urwälder Osteuropas

Der Lindenwald Las Lipowy Obrozyska bei Nowi Sacz: Nach der Eiszeit stiessen die Linden wieder nach Zentraleuropa vor und fassten hier Fuss.

 

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